Windeln, Fläschchen, Verantwortung – Was Jugendliche im Elternpraktikum lernen
Raum 222, Gesamtschule Duisburg-Mitte, Pappenstraße. Es ist Mittwochmorgen, 9 Uhr. Der neunte Jahrgang hat Pädagogik-Unterricht. 14- bis 16-Jährige betreten sichtlich müde den Klassenraum. So weit, so normal. Doch dann ertönt Baybgeschrei...
Acht Maxicosis stehen aufgereiht nebeneinander. Die Jugendlichen halten Säuglinge im Arm, wiegen sie, geben Fläschchen, wickeln. Geburtenstarker Jahrgang? Von wegen. Es ist Elternpraktikumswoche.
Die kleinen Windeln-Wichte haben zwar von ihren „Eltern auf Zeit“ Namen bekommen, werden Leni, Lio oder Kai gerufen, aber eigentlich sind sie nur durchnummeriert. Sie sind Puppen, sogenannte Baby-Simulatoren. Anders als echte Kinder könnte man sie ausstellen, sind sie batteriebetrieben und programmierbar. Schwierigkeitsstufen: leicht, mittel, schwer.
„Wir haben mittel gewählt. Das kriegen die Jugendlichen schon hin“, sagt Liane Lauprecht vom DRK Familienbildungswerk Duisburg. Sie koordiniert seit Jahren in Zusammenarbeit mit den „Frühen Hilfen“ des städtischen Jugendamts das Elternpraktikum.
Eine Schulwoche lang erfahren Schülerinnen und Schüler, wie es ist Mama und Papa zu sein, wie es sich anfühlt, nachts auf Trab gehalten zu werden, weil ein Baby seine Bedürfnisse lautstark kundtut. Im Stuhlkreis kommen die Probe-Eltern an diesem Mittwochmorgen zusammen. Erfahrungsaustausch. Wie war die erste Nacht mit Baby? Lojin: „Total anstrengend. Ich hatte es mir anders vorgestellt. Es wollte ständig was trinken und kuscheln. Ich habe nur drei Stunden geschlafen.“ Auch Amelie sind die Strapazen anzusehen: „Zwischen 22 und 5 Uhr bin ich bestimmt sieben Mal aufgestanden. Das war schon eine Herausforderung.“ Daniela pflichtet bei: „Es war schrecklich. Ich bin heute Morgen fast zu spät gekommen, musste mich ganz schnell anziehen.“ Und dann seien da noch diese „bösen Blicke“ von Fremden in Bus und Bahn. So jung und schon ein Baby. „Die Leute denken bestimmt, wir wären nicht gut genug aufgeklärt“, sagt Naima.
Liane Lauprecht nickt wissend. Sie kennt diese Reaktionen aus vielen Kursen. Eltern werden ist nicht schwer, Eltern sein umso mehr. Das merken die Jugendlichen am eigenen Leben. Und auch wenn es „nur“ eine Puppe ist, aus der Verantwortung können sie sich nicht ziehen. „Die Simulatoren zeichnen alles auf“, erklärt Liane Lauprecht. „Wie lange das Baby geschrien hat, ob die Eltern beim Hochheben das Köpfchen gestützt haben…“
Im Elternpraktikum geht es aber nicht um den erhobenen Zeigefinger, nicht um Abschreckung, sondern um Aufklärung, um das Lernen von Verantwortlichkeit und um Wissensvermittlung zu Themen wie Sexualität und Verhütung, Schwangerschaft und Geburt, Entwicklung eines Kindes. Aber auch um den Abbau von Hemmschwellen. „Ihr seid kleine Botschafterinnen und Botschafter dieses Wissens“, richtet Liane Lauprecht daher auch warme Worte an den Kurs.
Anna Pugell von den „Frühen Hilfen Duisburg“ stimmt zu: „Insbesondere die Zusammenarbeit mit dem Jugendamt soll helfen die Hemmschwellen gegenüber diesem abzubauen und einen ersten Zugang zu Unterstützungsmöglichkeiten öffnen – sei es jetzt oder wenn die Jugendlichen selber Eltern werden.“
Wissen über den Umgang mit Babys, über die Zerbrechlichkeit jungen Lebens, über das eigene Handeln in stressigen Krisensituationen. Schon leichtes Schütteln eines Säuglings, kann irreparable Hirnschäden verursachen. Um das zu demonstrieren, konnte das DRK durch finanzielle Mittel der „Frühen Hilfen“ im Rahmen der Kooperation einen Schütteltrauma-Simulator anschaffen. Der lebensgroße Simulator mit gläsernem Kopf. Wird er reflexartig - auch nur leicht – geschüttelt, leuchten umgehend rote Warnlampen in unterschiedlichen Zentren des kindlichen Gehirns auf. „Bevor ihr in so eine Situation kommt, wenn ihr merkt, das Baby ist bei mir gerade nicht in guten Händen“, erklärt die Kursleiterin, „legt es in sein Bettchen ab, entfernt euch aus der Situation und atmet erst einmal tief durch.“
Unterstützung der "Frühen Hilfen"
Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer hören aufmerksam zu, kümmern sich parallel mit immer routinierteren Griffen um ihre Baby-Attrappen, während Liane Lauprecht die städtischen Angebote für werdende und junge Eltern vorstellt. „Bei den Frühen Hilfen zentrieren sich alle Hilfsmöglichkeiten, die die Stadt Duisburg zu bieten hat.“ Die Botschaft: Schon das Hilfegesuch ist verantwortungsvolles Handeln. Liane Lauprecht zitiert ein altbekanntes Sprichwort: „Es braucht ein Dorf, um ein Kind aufzuziehen.“
Duisburg ist kein Dorf, Duisburg ist eine Großstadt. Entsprechend groß ist auch die Nachfrage von Haupt-, Sekundar-, Real- und Gesamtschulen nach dem Elternpraktikum, das 2011 ins Leben gerufen wurde. Allein im Schuljahr 2024/2025 haben 13 Klassen aus fünf Schulen teilgenommen, schnupperten 230 Jugendliche (117 Jungs, 113 Mädchen) Elternluft. Die Gesamtschule Mitte ist bereits seit zehn Jahren dabei. Die Betreuung eines Baby-Simulators ist dabei freiwillig. Häufig teilen sich auch zwei Schüler oder Schülerinnen die Verantwortung.
Das Jugendamt finanziert das Projekt und das Deutsche Rote Kreuz koordiniert die Projektwochen. Liane Lauprecht ist mit Herzblut dabei: „Wir sind oft überrascht von den positiven Ergebnissen am Ende des Projekts.“